Das ganze Leben hinter sich lassen und ab nach Deutschland: Etliche Spätaussiedler entscheiden sich jedes Jahr zu diesem Schritt. Doch Corona hat die Pläne vieler durchkreuzt. Auf gepackten Koffern sitzend, warten die Menschen nun, bis die Grenzen wieder offen sind.
Grund genug, sich in dieser Folge mit Russlanddeutschen zu beschäftigen, die seit den neunziger Jahren millionenfach nach Deutschland gekommen sind – aus Russland, Kasachstan, Kirgistan und anderen postsowjetischen Ländern. Eine von ihnen ist Irina Peter. Sie wurde in Zelinograd geboren (heute Kasachstans Hauptstadt Nur-Sultan) und kam als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland. Heute arbeitet sie als Online-Marketing-Managerin und Autorin. Im Gespräch erzählt sie uns ihre persönliche Geschichte und wie sie Kasachstan heute wahrnimmt.
Springe zu: 3:30 Ira stellt sich vorVon Kasachstan nach Deutschland
Mehr als drei Millionen Spätaussiedler kamen seit den 1980er Jahren aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Deutschland. Viele landeten zuerst in sogenannten Lagern, wie zum Beispiel im niedersächsischen Friedland. Von dort wurden sie in die gesamte Bundesrepublik verteilt. Die meisten fanden später in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg ihr neues Zuhause. Viele Deutsche hatten ein eher schlechtes Bild von den Neuankömmlingen, für sie waren es “die Russen”.
Springe zu: 14:35 Edda über ihre Wahrnehmung der Spätaussiedler in den 90ernEin hartes Schicksal
Bis heute ist die Geschichte der Russlanddeutschen kaum bekannt – und das Schicksal, das sie erlitten haben. Ein Großteil der heutigen Russlanddeutschen folgte im 18. Jahrhundert einem Aufruf der damaligen Zarin Katharina II. Vor allem aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen verließen die Kolonisten Deutschland. Im Zarenreich siedelten sie sich an der Wolga, am Schwarzen Meer und im Kaukasus an und genossen etliche Privilegien, wie die Ausnahme vom Wehrdienst.
Mit dem Ersten Weltkrieg begann eine Zeit der Unterdrückung. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers wurden die Russlanddeutschen der Kollaboration mit den Nationalsozialisten beschuldigt, Stalins Massensäuberungen taten ihr Restliches. Bis Ende 1941 wurden etwa 900.000 Menschen nach Zentralasien und Sibirien deportiert, wo sie unter widrigsten Umständen lebten.
Springe zu: 17:31 Wie Iras Familie nach Kasachstan kamEine Ausreisebewegung setzt ein
Die Deutschen in der Sowjetunion wurden erst 1964 rehabilitiert, jedoch nicht vollständig und viele litten weiterhin unter Diskriminierung, z.B. dem eingeschränkten Zugang zu Universitäten. Erst mit der Perestroika unter Michail Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre änderte sich das. Eine Ausreisewelle setzte ein, die ihren Höhepunkt nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 fand.
Aufgrund der unsicheren politischen Lage in den ehemaligen Republiken, der zunehmenden Kriminalität und der Inflation entschieden sich die meisten Russlanddeutschen in die Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren.
Springe zu: 27:01 Über die Entscheidung auszusiedelnFalsches Bild der Russlanddeutschen?
Heute gibt es in Kasachstan noch knapp 180.000 Deutschstämmige. Sie haben eigenen Vereine und Strukturen. Der größte Verband ist die “Gesellschaft der Deutschen – Wiedergeburt”, zu der auch die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) in Almaty gehört.
Irina war seit ihrer Aussiedlung zwei Mal in Kasachstan. Sie nimmt das Land heute natürlich ganz anders wahr als in ihrer Kindheit. Trotzdem gibt es noch viel Vertrautes, wie der Klang des Russischen oder das Essen.
Springe zu: 35:57 Wie Ira heute Kasachstan wahrnimmtIn Deutschland erregten die Spätaussiedler zuletzt Aufmerksamkeit durch den “Fall Lisa”, bei dem ein russlanddeutsches Mädchen von einem muslimischen Migranten vergewaltigt worden sein soll. Die Geschichte wurde sogar von der Regierung Russlands aufgegriffen, stellte sich später jedoch als falsch heraus. Auch deshalb hat die “Alternative für Deutschland” (AfD) die Russlanddeutschen wohl als potenzielle Wählergruppe für sich entdeckt. Doch vor allem junge Menschen wie Irina wehren sich gegen das Bild der nationalkonsversativen Spätaussiedler.
Springe zu: 44:45 Irinas Bild von den RusslanddeutschenBekannte Russlanddeutsche
Nicht zuletzt gibt es jede Menge bekannte Russlanddeutsche, wie zum Beispiel Helene Fischer (Sängerin), Roman Neustädter & Bernd Leno (beide Fußballer) oder Andre Geim (Physik-Nobelpreisträger).
Weiterführende Literatur
Wer sich für Literatur interessiert, hier eine kleine Auswahl:
Herold Belger: Das Haus des Heimatlosen
Viktor Funk: Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich
Eleonora Hummel: Die Wandelbaren
Der Link zu Iras Online-Lesung erscheint hier, sobald er verfügbar ist.
Bei der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es übrigens ein ganzes Dossier zum Thema Russlanddeutsche, durch das ihr euch klicken könnt.
Herzlichen Glückwunsch, tolle Folge. Sympathisch. Informativ. Toll auch die Zusatzinfos Online. Rundum gut. Bin gerne dran geblieben LG aus Wien Stephan Ozsváth
Hallo lieber Stephan, Edda hier, ganz vielen Dank für dein Feedback. Das freut uns natürlich sehr. Und ehrlich, wir fanden diesmal auch, dass eine Stunde nicht zu viel war, einfach weil man Ira gut zuhören kann und interessant ist, was sie zu erzählen hat. Ich persönlich bin ja da eher auf der Seite, da sind eben mal mehr als 30 Minuten Aufmerksamkeit gefragt. 🙂 🙂 Passt natürlich nicht immer, aber dein “Bin gerne dran geblieben” bestätigt das. Und danke auch fürs Vernetzen auf Instagram.
Sehr geehrte Frau Peter,
habe alle höchster Achtung für die Menschen, die sich vor allem für die Russlanddeutsche, mit ihren zahlreichen
Opfern und Leidensweg einsetzen, so wie SIE es tun.
Vielen Dank für Ihre Kommentare, in der vor kurzem ausgestrahlte Sendung im SWR “Russlanddeutsche”.
Denke auch so, wofür SIE sich einsetzen – für die verschwiegene Wahrheit einer großen Minderheit.
Ich stamme auch von einer russlanddeutscher Familie in Dorf Baden/Odessa ab.
In Dorf Baden/Odessa, wanderte auch eine kath. Familie Peter, aus Steinmauern, 1808, ein.
Mein Großonkel Anton Wangler war, als zaristischer Offizier, mit 29 J., Oberst bei General der Südfront
in der Ukraine P. N. Wrangel und leistete, in der Unterzahl, erbitterten Wiederstand gegen Kotowski-Bande.
Publizierte auch schon, mit eigenen Zeichnungen, auch in der BNN. Aber mehr in der Heimatgeschichte
aus meiner, jetzigen, badischen Heimat.
Als Hobby-Archäologe hatte 2006, Burgreste der Burg Ufgau in Karlsruhe, nach 20 Jahre Suche, im Hardtwald
entdeckt und darüber auch mehrfach in der Presse berichtet.
Werde demnächst auch Ihre veröffentliche Bücher gerne mit großem Interesse lesen.
Wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer wichtiger Arbeit und Publikationen über unsere gemeinsame
Vorfahren – Russlanddeutsche.
Mit freundlichen Grüßen
Georg Wangler
Sehr geehrter Herr Wangler,
hier ist Edda Schlager, eine der beiden Autorinnen des Podcassts. Vielen Dank für Ihren interessanten Kommentar. Ja, ich denke, die SWR-Dokumentation hat bei vielen etwas bewegt – wenn auch möglicherweise nicht in dem Sinne, wie der SWR es vorhatte. Schön, dass Sie daraufhin auch unsere Seite gefunden haben.
Ich leite den Kommentar an Frau Peter weiter, sie muss ihn natürlich unbedingt lesen!
Nochmals vielen Dank an Sie und alles Gute.
Viele Grüße aus Almaty in Kasachstan
Lieber Herr Wangler,
vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und die aufauenden Worte. Oft fühlt es sich wie ein Kampf gegen Windmühlen an, wenn ich über die Geschichte und Migrationserfahrung der Russlanddeutschen öffentlich schreibe oder spreche – vieles kommt leider nicht an, auch beim SWR nicht, der die offizielle Beschwerde an den SWR Rundfunkrat von 100 Menschen nicht ernst nimmt und noch immer der Meinung ist, eine nicht tendenziöse Doku über Russlanddeutsche publiziert zu haben.
Meine Kolleg:innen und ich werden aber weitermachen und mit unserer Arbeit hoffentlich dazu beitragen, Vorurteile gegenüber Russlanddeutschen in Deutschland abzubauen.
Alles Gute für Sie,
Ira Peter