Zentralasien schaut gerade gespannt nach Belarus, wo seit Tagen gegen Wahlfälschung und den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko protestiert wird. Denn was auch immer dort passiert, wird Einfluss auf Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan haben. Grund genug, dass sich Edda und Othmara mit den Reaktionen auf Belarus beschäftigen.
Solidarität mit Belarus in den sozialen Medien
Vor allem in den sozialen Medien drücken etliche Menschen ihre Solidarität mit den Belarusen aus. Bei vielen Leuten liest man die Losung „Жыве Беларусь“ (zu dt.: Es lebe Belarus), denn die friedlichen Proteste könnten auch ein Vorbild für die hiesigen Länder sein. Der kirgisische Journalist Bektur Iskender schrieb beispielsweise: „Belarus, ich fiebere sehr mit euch. Ich werde nicht müde zu wiederholen: Wenn ihr Erfolg habt, wird das viele in unserem gemeinsamen postkolonialen Raum inspirieren.“
Als am 15. August dem 30. Todestag von Wiktor Zoi gedacht wurde, hatte jemand seiner Statue im Stadtzentrum von Almaty die die weiß-rote Fahne der belarusischen Opposition umgehängt. Sein Lied „Chotschu Peremen“ gilt als Hymne der Perestroika und wurde nun im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Belarus gespielt. Die DJs wurden dafür verhaftet.
Die offiziellen Reaktionen in Zentralasien fallen verhaltener aus. Gleich am Tag nach der Wahl vom 9. August, gratulierten alle Präsidenten in Zentralasien – bis auf Turkmenistans Berdymuhammedow – Lukashenko zu seinem Sieg. Nach der endgültigen Auszählung soll er mit mehr als 80 Prozent der Stimmen gewonnen haben.
In den kasachstanischen Medien gab es eine interessante Entwicklung: Zunächst wurde über die Wahl und die Proteste berichtet, aber sehr verhalten. Dann wurde die offizielle Gratulation von Toqajew wiedergegeben. Mit Bekanntwerden der Massenverhaftungen und Foltervowürfen kamen auch kritische Stimmen hinzu. Seitdem Lukaschenko jedoch am Schwanken ist, sind die (staatsnahen) Medien wieder vorsichtiger geworden in ihrer Berichterstattung.
Springe zu: 10:44 Othmara zu den Reaktionen in den (sozialen) MedienBelarus als Gefahr für die eigene Macht
Die Machthaber in Zentralasien werden jetzt ganz genau verfolgen, wie Lukaschenko auf die Proteste reagiert. Bisher haben weder die Massenverhaftungen noch die Polizeigewalt die Menschen stoppen können und am Wochende stellte Lukaschenko sogar eine Verfassungsänderung und anschließende Neuwahlen in Aussicht.
Gerade in Kasachstan ist die Protestbewegung noch frisch. Es war erst im vergangenen Jahr, als hunderte Menschen für freie und faire Präsidentschaftswahlen demonstrierten und dann nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse auf die Straßen gingen. Und auch die Tulpenrevolution in Kirgistan begann 2005 mit Protesten gegen Wahlbetrug. Sollten die Demonstranten in Belarus nun als erfolgreich sein und weitgehende politische Veränderungen folgen, könnte das zumindest die protesterprobten Kasachstaner und Kirgisen vielleicht wieder auf die Straßen bringen.
Dann könnten aber auch die Daumenschrauben in Zentralasien deutlich angezogen werden, um so etwas erst recht zu verhindern, befürchtet Edda. Andererseits könnte sich Lukaschenko tatsächlich mit Gewalt an der Macht halten, vielleicht sogar mit der Unterstützung Russlands. Das könnte auch die zetralasiatischen Präsidenten dazu verleiten, den Schulterschluss mit Russland zu suchen, um ihre eigene Macht zu konsolidieren.
Springe zu: 16:38 Eddas Einschätzung zu den politischen ReaktionenWie hoch ist das Protestpotenzial in Zentralasien?
Bei jungen Menschen in Kasachstan sieht Othmara durchaus ein Protestpotenzial, wie man im vergangenen Jahr gesehen hat. Die Situation hier ist am ehesten mit Belarus zu vergleichen. Trotz des Rücktritts von Nursultan Nasarbajew im März 2019 hält er weiterhin die politischen Fäden in der Hand. Man wünscht sich einen Wechsel. Schon vor Corona war die wirtschaftliche Situation schwierig in Kasachstan. Eine junge Frau in Almaty meinte zum Beispiel kürzlich, dass das, was jetzt in Belarus geschieht, Kasachstan in fünf Jahren bevorstehen könnte.
In Kirgistan, wo im Herbst ein neues Parlament gewählt wird, gab es bereits zwei Regierungsumstürze in den Jahren 2005 und 2010. Beide haben allerdings nicht den erhofften Wandel gebracht. Die Kirgisen wirken revolutionsmüde.
Auch in Tadschikistan wird bald gewählt. Am 11. Oktober soll ein neuer Präsident bestimmt werden. Ob der aktuelle Amtsinhaber Emomali Rachmon oder sein Sohn Rustam Emomali antritt, ist noch unklar. Rachmon ist ebenso wie Lukaschenko seit 1994 im Amt. Sollte Lukaschenko gestürzt werden, wäre Rachmon der am längsten amtierende Staatschef in der ehemaligen Sowjetunion.
In einem Beitrag von Nastojatschee Wremja wurden Passanten in Duschanbe befragte, wie sie zu den Protesten in Belarus stehen und ob das auch in Tadschikistan möglich sei. Die meisten glauben nicht daran, da unter anderem der Sicherheitsapparat zu stark sei. Andere verwiesen auf die Erfahrung des Bürgerkriegs und fürchten erneut Chaos und Tote. Der Journalist Chairullo Mirsaidow erläuterte, dass es zu viele Beamte auf Rachmons Seite stünden und es an einem starken Oppositionspolitker fehle.
In Usbekistan ist nach den Reformbemühungen der vergangenen Jahre das Regime dabei, die Zügel wieder anzuziehen. Ein strenger Lockdown aufgrund der Corona-Pandemie hat den Sicherheitsapparat wieder gestärkt.
An Turkmenistan scheiden sich die Geister. Während Othmara kaum Nachahmerpotenzial sieht, glaubt Edda eher an mögliche Proteste, da der Staat momentan noch nicht einmal die Grundversorgung gewährleisten kann. Die staatlich kontollierten Medien berichten nicht über Proteste, es gibt keine Opposition im Land und die Kommunikation ist stark eingeschränkt.
Springe zu: 18:10 Länderüberblick ProtestpotenzialEs fehlt an einer Führungspersönlichkeit
Der größte Unterschied zwischen Belarus und den Ländern Zentralasiens ist, dass es momentan an einer glaubwürdigen Führungspersönlichkeit fehlt. Die belarusische Opposition hat mit Swetlana Tichanowskaja eine Anführerin wider Willen. Doch vielleicht gerade, weil sie gar keinen Führungsanspruch erhoben hat und in einem Trio angetreten ist, war sie so erfolgreich. Bis vor wenigen Wochen hätte kaum ein Beobachter die jetzige Entwicklung in Belarus vorhergesehen.
Bemerkenswert ist auch, dass mittlerweile Staatsangstellte an den Protesten teilnehmen. Zudem gibt es bereits Beispiele, als sich die Polizei geweigert hat, gegen Demonstranten vorzugehen. Sehr eindrücklich war eine Szene vor dem Parlamentsgebäude, als die Sicherheitskräfte ihre Schilde runterließen und von den Protestanten umarmt wurden. Das hat man so in Zentralasien noch nicht gesehen.
Die Frage ist, wie sich Russland nun verhält. Ein weiterer Unterschied zu Zentralasien ist, dass die Belarusen Russland gegenüber mehrheitlich freundlich gesonnensind. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass 70 Prozent der Belarusen für eine Beibehaltung der Beziehungen mit Russland sind, mit offenen Grenzen und einer starken wirtschaftlichen Union.
Springe zu: 36:16 Othmara zu den Unterschieden zwischen Zentralasien und BelarusAuswirkungen auf die Eurasische Wirtschaftsunion
Belarus war 2015 zusammen mit Russland und Kasachstan ein Gründungsmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), zu der auch Kirgistan und Armenien gehören. Das Projekt ist in Zentralasien allerdings nicht sonderlich populär, da Russland mehr Vorteile davon hat als die anderen.
Sollte Belarus als sichere Stütze der EAWU wegbrechen, könnte das gesamte Projekt in Frage gestellt werden
Springe zu: 38:45 Edda über die EAWUWas wird aus Bakijew?
Spannend ist auch die Frage, was mit einigen Zentralasiaten passiert, die in Belarus im Exil leben. Am Tag nach der Wahl besuchte Lukashenko ein Zentrum für Biotechnologie. Der Leiter dieses Zentrums heißt offiziell Daniil Uritsky. Allerdings sieht er verdächtig nach Kirgistans flüchtigem Ex-Premierminister Daniyar Usenow aus, der nach dem Regierungsumsturz 2010 aus Kirgistan floh. Er wurdde später in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Auch der damals amtierende Präsident Kurmanbek Bakiyev flüchtete 2010 nach Belarus. Er hat mitllerweile die belarusische Staatsbürgerschaft angenommen. Bakijew wurde wegen der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste in Bischkek, bei denen dutzende Menschen ums Leben kamen, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Bisher hat sich Belarus geweigert, Bakijew und Usenov an Kirgistan auszuliefern.
Springe zu: 41:00 Die verrückte Belarus-Kirgistan-Verbindung